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to be continued_2
(2015/16)

Heinrich Schwazer über das Projekt

Werner Gassers Postkarten-Edition to be continued habe ich kurz nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2000 erstmals zu Gesicht bekommen. Ich begann die 15 Karten durchzuschauen, wieder und wieder, von vorne nach hinten, als Serie und wie ein großes Gemälde vor mir ausgebreitet. Ich war gebannt. Danach dachte ich über viele Fragen der Fotografie anders als zuvor.

September, Karte 4Die erste Begegnung war die eines provozierenden Rätsels. New York-Fotografien mit ihren klassischen Vertikalen waren in auffälliger Weise abwesend. Auf den ersten Blick war es die Bildersammlung eines urban explorers ohne Stadtplan, der sich das Vergnügen leistet, sich zu verirren. Einer, der sich wie Paul Valérys aufmerksamer Schlafwandler weitgehend abseits der schwarmgesteuerten Touristenpfade bewegt und der keiner Rechtfertigung bedürfenden Lust des Schauens frönt. Die spontane Schnappschussfotografie, für gewöhnlich Ausweis der Authentizität in der Fotografie, war darin ebenso enthalten wie die kompositorisch präzise Strukturierung von Wahrnehmungsereignissen. Das Paradox des Fotografen, der das Offensichtlichste und Ungreifbarste überhaupt, den gegenwärtigen Augenblick, erhaschen will und sich bewusst ist, dass Spontaneität ihrerseits sehr rasch „gestellt" wirken kann, stecken als entgegengesetzte und zugleich konstitutive Momente gleichermaßen in Gassers Arbeiten.

Die Schönheit dieser Fotografien war unbestreitbar, aber es war eine Schönheit, die sie nicht gleich vorwiesen und zweifelhaft schien mir, ob Schönheit überhaupt der richtige Begriff war. Ein poetisches In-der-Welt-Sein drückte sich in ihnen aus, die lyrische Haltung von Haikus untergründig ineinander verwobener Lebensmomente, die eins überrascht von des anderen Gegenwart sind.
Nur auf wenigen Fotos ließ sich der Ort identifizieren, weil sämtliche raumschaffenden Werte eliminiert beziehungsweise unterdrückt waren, Ich hatte den Eindruck, einem Stadtwanderer von Irgendwo nach Irgendwo zu folgen. Welches Bild sich dem Fotografen in der Hingabe des Sehens als das wichtigste, naheliegendste, entfernteste oder auch niemals erreichbare herausstellen wird, schien selbst in ein gleitendes Unterwegssein verlegt zu sein.

Was hebt Werner Gasser unterwegs auf? Bilder, die eine Geschichte haben, die er nicht kennt. Bilder, von denen nur gewiss ist, dass „etwas" - aber was genau ? - zum bildlichen Ereignis geworden ist. Er fotografiert einen Seifenspender in einer öffentlichen Toilette in Downtown, einen schäbigen Duschvorhang im Chelsea Hostel, eine poppige Wohnwand in einem Treffpunkt für Obdachlose, ein grell herausgeputztes koreanisches Hochzeitspaar auf der Brooklyn Bridge, phosphoreszierend leuchtende Medusen im Aquarium von New York und einen wenig appetitlich ausschauenden Zwiebelrostbraten in Nahaufnahme.
November, Karte 10
Mit wenigen Ausnahmen fehlte den Bildern alles Dramatische, Pointierte oder antagonistisch Zugespitzte. Genau genommen wirkten sie wie ein Torso, dem bestimmte Teile fehlen. Die eingespielte Hierarchie des Blickes, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, war außer Kraft gesetzt. Es herrscht eine, wie man mit Sigmund Freud sagen könnte, gleichschwebende Aufmerksamkeit. Was bedeutet, dass es nichts Unwichtiges gibt.

Auf eine geradezu körperliche Weise war die Präsenz des Fotografen spürbar. Er nimmt einen mit auf die Straße, ins Museum, aber auch unter die Dusche, zum Essen, besucht offene und geschlossene Räume und überträgt diese Erfahrungen ins Bildliche. Dezent und doch radikal persönlich zeigt er sich als ein Reisender mit allen Sinnen, der nicht das Losgelöstsein vom Alltag zelebriert, sondern im Gegenteil die Lust am Alltäglichen. Der Übersetzungsprozeß vom Erleben zum Erzählen zum einen, die Übersetzung der fremden Welt in die eigene zum anderen, macht die Bilder als Partikel eines Lebensgefühls begreifbar.

Die Bilder schienen mir das einfachste Vorbild überhaupt zu haben: die Haltung eines Erzählers, der sich erinnern will - an Begebenheiten, Geschichten, Menschen und Orte einer Stadt, die nur durch seinen Blick verbunden sind und sich möglicherweise, wenn überhaupt, erst im Rückblick und immer im Konjunktiv zu einer Geschichte fügen. Aus der Menge an Bildern hat Gasser in einer komplexen Erinnerungspoetik, in der das Vergessen selbst als eine Erinnerung bewahrende Kraft wirkt, eine Selektion vorgenommen, die einerseits weniger, andererseits aber auch mehr aufbewahrt. Sie ist weniger darin, dass sie auswählt und immer nur Einzelnes aus dem Gedächtnis heraufholt. Sie ist mehr, weil sie dem, was sie heraufholt, etwas hinzufügt, was es so im Moment ihres Entstehens nicht gegeben hat: eine Geschichte, eine Narration, einen Zusammenhang, eine Form.

Das Narrative steckte bereits im Titel der Serie. to be continued bringt eine nach vorne offene Zeit ins Spiel, der Abschluss ist in eine unbestimmte Zukunft verlegt. Was bedeutet, dass das Projekt erst am Ende das wird, was es wirklich ist. Das Suchschema ist und bleibt ein fortgesetzter Aufschub.

15 Jahre danach liegt der zweite Teil von to be continued vor und er wartet mit einer Überraschung auf. Beim Betrachten kehren die Bilder der ersten Serie ungerufen wieder, als ob sie stillgestellt, überschrieben, mehrfach überlagert von anderen Bilderschichten im Gedächtnis verblieben wären, aber eine Präsenz wie im ersten Moment behaupten. Die „memoire involontaire" scheint sich in die konzeptuelle Logik von Werner Gassers Fotoprojekt eingeschlichen zu haben, an kein Ende zu kommen und nie mehr aus dem Sinn geraten zu wollen.

Dezember, Karte 13 Was ist geblieben, was ist anders? Geblieben ist in erster Linie der Editions-Modus Postkarte, der im Zeitalter digitaler Distribution eine eigene poetische Kraft entwickelt. Das bedrohte Medium Postkarte spiegelt dabei kein nostalgisches Moment, sondern enthüllt die innerste Bestimmung von Gassers Fotoprojekt als Gabe. Postkarten sind selbst Reisende, sie zirkulieren auf ungeplanten und unkontrollierbaren Wegen, verbinden sich mit anderen Leben, sind durchlässiger als Ausstellungsräume, sind aus Spuren entstanden und hinterlassen selbst Spuren.

Ihr entscheidendes Merkmal ist das Denken der Postkarte als Gabe. Die Gabe fordert im Gegensatz zum Geschenk kein Gegengeschenk, sie steht außerhalb des ökonomischen Handels, sie ist, wie es der französische Ethnologe Marcel Mauss formuliert, „vielleicht das Unmögliche". Die Fotos als Postkarten auflegen stellt die Frage, welcher Restplatz der Gabe in der durchökonomisierten Gesellschaft noch bleibt. Eine Postkarte wendet sich an alle und niemanden, sie ist unvorhersehbar, flattert wie ein Zeichen aus einer anderen Welt herein. Die Welt durch eine Postkarte zu sehen, heißt auch, die Welt mit den Augen vieler anderer zu sehen.

Die neue Serie bündelt 40 Aufnahmen aus den vergangenen sechs Jahren. Die Formate sind nicht mehr abfallend, sondern in einem Polaroid-Format mit viel Luft herum gedruckt. Allein das verleiht ihnen eine eher epische als dramatische Wirkung. Erneut gewinnen sie ihre bildliche Energie aus der Tiefe des Unterwegsseins, diesmal aber sind die Kreise weiter gespannt. Berlin, Chicago, Florenz, Mumbai und Assuan in den Tagen des Umsturzes im Februar 2011, aber auch die Fanes Alm in den Dolomiten sind die Reiseziele. Bildtitel fehlen zur Gänze, was die Fotos zeigen, muss aus dem bildnerischen Material erschlossen oder erahnt werden.

Unabhängig davon, ob er in den Städten, in den Bergen oder in der Wüste unterwegs ist, es sind immer die Ränder, die seine Aufmerksamkeit binden. In Chicago ist das ein mit zerfetzten Planen bedecktes Baugerüst, in Mumbai sind das eine Gruppe von Rekruten, die sich für den Fotografen in eine überraschend zärtliche Pose werfen, in Berlin sind es das Artisten-Museum, Wohnungen von Freunden und das eigene dörflich anmutende Haus. Mehrfach variiert kommen Blumen- und Pflanzenmotive vor. Blumen in der Vase, Blumen auf Tischdecken gestickt, Blumen auf Postkarten, aber auch Topfpflanzen und Bäume in Grunewald. Das spielt evident mit der klassische Gattung des Blumenstilllebens, ohne jedoch das preiszugeben, was an den Dingen je singulär ist, einzigartig und unwiederholbar. Häufig geht es um den Topos des im Plural gedachten guten Lebens. Spielende Kinder am Strand von Usedom, Kaulquappen in einem Nudelsieb, ein Geburtstagskuchen, ein farblich perfekt komponierter Couchtisch, eine Wanderung in den Dolomiten, ein Hotelzimmer mit laufendem Fernseher in Mumbai - fast überall scheint die Magie des durch und durch Privaten und des erfüllten Augenblicks durch. Eng daneben liegen die Momente des Öffentlichen, etwa in den Uffizien in Florenz, wo Gasser eine Schar japanischer Touristen beim Betrachten der Venus fotografiert - und die Venus schaut zurück.

Oktober, Karte 6 Im Vergleich zur ersten Serie akzentuiert to be contiued 2 deutlich stärker die Nuance. Allein die Vielzahl der Variationen, etwa der Blumenmotive, umschreibt nichts als das Individuelle, sie begehren nichts anderes als das gewisse Etwas mit einem ausgeprägten Sensorium für Halb- und Zwischentöne, für Stimmungen und diffizile Spannungen. Falsch verstanden wären diese Nuancierungen als impressionistisches Schwelgen in Details, sie sind als Arbeit am Stil konzeptualisiert. Die Kunst der sprezzatura wirkte in ihnen, jene Beiläufigkeit, bei der man der Kunst ihr Kunstsein nicht ansieht.

Die eigenwilligen kompositorischen Bildausschnitte können jedoch auch unversehens in Notwendigkeit kippen. Mein persönliches Lieblingsbild ist eine Aufnahme am Staudamm von Assuan zur Zeit des politischen Umsturzes in Ägypten. Das Foto ist aus einem fahrenden Bus heraus aufgenommen und zeigt nichts als eine Momentaufnahme auf einer Baustelle. Die Welt vor dem Fenster ist auf ein gerade noch erkennbares Minimum reduziert, das atmosphärische Stimmungsbild gewinnt aber um so mehr. Die Spannung von Form und Nichtform, von erkennbarem Objekt und Auflösung in die Abstraktion signalisiert, dass der Fotograf die Möglichkeiten des Bildes gerade im Verlöschen des Realen sieht. Es löst sich von seinem Gegenstand, um selbst Ereignis zu werden. Der Eindruck einer misslungenen, von medialen Effekten nahezu überschwemmten Aufnahme wird kontrastiert mit der präzise komponierten Anordnung der Linien und Farbflächen, bei denen nichts dem Zufall überlassen ist: Drei vertikale Bildachsen teilen es in drei voneinander abgegrenzte Flächen. Rechts sieht man einen blauen Vorhang von fast skulpturaler Plastizität, das zentrale Motiv bildet eine verschwommen sichtbare Straße, auf der ein Lastwagen fährt, die linke Fläche läuft in ein gleißendes Weiß aus.

Für ein politisches Ereignisbild fehlt der narrative Kontext, aber genau in dieses Nicht-sehen-Können ist der Fensterblick des globalen Reisenden auf die Weltgeschichte infiltriert. Es wirkt wie das ungeschickte Foto eines Amateurs, dem inmitten des Geschehens die Kontrolle über das Aufzeichnungsgerät entglitten ist. Das Foto zeigt keine Geschichte, es eröffnet Bildräume, über die Geschichten erzählt werden können. Es spricht nicht. Aber es gibt Anlass zum Sprechen.



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